Allgemein, NTM digitalERSATZPRODUKTE [TAGEBUCH EINER UNSICHTBAREN DRAMATURGIN #3]

Während ich mir eine intensive Choreographie – zuckende Körper in düsterem Licht – über die Urkraft der Erde anschaue, ruft meine Schwester an und fragt, wie man nochmal aus Cashewkernen veganen Parmesanersatz für Gemüselasagne zubereiten kann. Und ich ärgere mich kurz, weil das Archaische so unvorbereitet vom Alltäglichen gekappt wurde. Und ich natürlich mein Handy hätte ausstellen können. Aber mehr als über den Anruf oder mich selbst ärgere ich mich über diese Situation, die mir die Essenz von Theatererfahrungen wegnimmt.

Wenn man zwischen „Sein“ und „Nicht Sein“ noch kurz den Müll rausbringen kann, fehlt das im Moment sein. Ich kann mir das natürlich einrichten – mein Handy ausschalten, die Jalousien herunterlassen, mir selbst eine Anfangszeit setzen und mich adrett gekleidet mit einem Sektchen auf’s Sofa setzen bevor sich der digitale Vorhang hebt. Aber das fühlt sich doch sehr konstruiert an. Und ich komme nicht umhin zu denken, dass ich damit versuche, mich selbst auszutricksen. Ich sehne mich nach der Zauberei, der Theatermaschine, dem echten Schweiß, den magischen kathartischen Momenten. Ich stelle, während ich mich durch Inszenierungsaufnahmen und Online-Formate verschiedener Theater- und Opernhäuser klicke, die Idee von digitalem Theater sehr in Frage.

Und darf mir selbst doch wieder nicht unhinterfragt Glauben schenken, denn: auch im „analogen“ Theater hat bei weitem nicht jede Inszenierung so etwas ausgelöst. Und ich bin genauso abgeschweift, war gelangweilt oder habe mich gefragt, warum ich gerade hier sitze und so etwas anschaue und anhöre. Der Unterschied: ich saß da nicht alleine.

Ich bin froh, als mir auffällt, dass die geteilten Erfahrungen im Moment nicht nur aus unklaren Zukünften und Sorgen um das persönliche und gesellschaftliche Wohl bestehen. Oder aus Maskentragen. Oder aus „herrlichen“/“flotten“/“erfrischenden“/“zum Brüllen komischen“ Corona-Memes zum Thema Gewichtszunahme in Isolation.

Sondern dass ich mich in manchen Momenten tatsächlich mit anderen Menschen durch gemeinsames Erleben verbunden fühle, obwohl ich alleine bin. Wenn ich bei dem Livestream eines Balkonkonzertes zusehe, das im Innenhof meiner Eltern stattfindet und sie anrufe und frage, ob sie auch gerade zuhören (Ja, wir stehen am offenen Küchenfenster. Klingt schön, oder?). Oder am nächsten Morgen feststelle, dass eine Freundin und ich am Vorabend demselben DJ beim Livestream zugehört haben. Und es sich so anfühlt, als wären wir auf derselben Party gewesen, hätten uns aber in der Menge nicht entdeckt. Oder mich zu einem Opernstream dazuschalte, nachdem Kolleginnen in einem Chat davon berichten (Schaut ihr auch? Ich finde ja die Kostüme etwas seltsam.). Wenn ich nicht nach dem ephemeren Theatermoment suche, sondern nach der geteilten Erfahrung, dann finde ich digitales Theater doch gar nicht so abwegig. Und wann kann ich sonst schon im Theater meiner 246 km entfernt wohnenden Schwester sagen: „Schau dir doch, während die Lasagne im Ofen ist, mal dieses Tanzstück an, da ist grade eine Szene, die mir sehr gefällt.“

Und ehrlich gesagt finde ich es ja schon praktisch, dass ich kurz „Carmen“ stoppen kann und erleichtert wieder zurückkehren, ohne dass eine ganze Reihe von Menschen dafür aufstehen und ich mich stumm entschuldigend an ihnen vorbeiquetschen muss.

P.S. Antwort auf die wichtigste Frage dieses Textes: man legt Cashewkerne und ein paar Knoblauchzehen in ein bisschen Wasser ein und zerhackt das Ganze mit dem Mixer in kleine Stückchen.

(Dorothea Mildenberger arbeitet seit Mitte März in der Operndramaturgie des Nationaltheater Mannheim und muss gestehen, dass sie der Thymianpflanze, die zu Beginn eine treue Begleiterin war, mittlerweile wenig Aufmerksamkeit zukommen lässt. Sie wächst und gedeiht aber trotzdem.)