AllgemeinQuadratsynapsen [Tagebuch einer unsichtbaren Dramaturgin #4]

Bahnhofsvorplatz in Mannheim. Kleiner Rollkoffer und größerer Rollkoffer grau-metallic plaudern, blauer Rucksack geht vorbei, bleibt irritiert stehen, dreht sich um. „Seid ihr…?“ – „Ach, was für ein…!“ – „Das ist ja…!“ – „Wie schön!“ und dann: „Es gibt dich ja in echt!“

Ich als unsichtbare Dramaturgin habe in den vergangenen Wochen – obwohl die Welt langsam wieder geöffnet wurde – viel durch einen Bildschirm in letztere geschaut. Habe in digitalen Sitzungen die Bekanntschaft von Menschen gemacht, von denen ich teilweise den Namen und die private Inneneinrichtung gleichzeitig kennengelernt habe. Ich habe mit viereckigen Kästchen kommuniziert, die – je nach Qualität der Internetverbindung – manchmal sehr abgehackte Signale gesendet haben. Und weil die Zusammenarbeit trotz örtlicher Distanz regelmäßig stattgefunden hat, hat sich dabei eine gewisse Art von Nähe entwickelt. Als hätte ich Kontakt mit Kolleg*innen aus Fleisch und Blut – obwohl sich ja eigentlich nur mein Hirn aus bruchstückhaften Informationen in rechteckiger Form das Gegenüber zusammengebaut hat.

Genau um die versuchte Konstruktion einer Einheit ohne Lücken dreht es sich auch beim Instagram-Account der Neuproduktion „Dark Spring“ (@darkspring_ntm). Hier werden verschiedene Menschen aus Sicht einzelner Stückfiguren Inhalte veröffentlichen, die dementsprechend vielstimmig sein können und kein notgedrungen kongruentes Figurenbild vermitteln werden. Diese unterschiedlichen Facetten wird jede*r Betrachtende anders zusammensetzen und vielleicht gerade in der Uneindeutigkeit die Macht der eigenen Synapsenkonstruktionen erleben.

Rund um die Produktion hat mein Hirn, ohne dass ich es dazu aufgefordert hätte, solche Arbeit geleistet. Keine*n der Schüler*innen der Produktionsklasse, die für den Instagram-Account „darkspring_ntm“ Posts kreiert haben, habe ich je gesprochen und trotzdem bauen meine Synapsen zu jedem Beitrag eine dahinterliegende Persönlichkeit, die sich mit dem Stoff von „Frühlingserwachen“ auseinandergesetzt und dazu eigene Gedanken in ein Foto samt Kurztext übersetzt hat. Ein vermeintlicher Bezug zu Unbekannten, der auf minimalen Aspekten beruht, hinter denen ein ganzer Mensch wartet. Quadrate, aus denen das Hirn eine Persönlichkeit baut. Es nimmt die Bausteine, setzt sie in Bezug zueinander, ignoriert die Lücken und konstruiert daraus ein Ganzes.

Und doch: wie erleichternd, wenn nach längerer Zeit dieser sogenannten Synapsenkonstruktionen die Realität vorbeischaut und ich (der blaue Rucksack) bis dahin nur digital erlebte Menschen zufällig und sehr unerwartet real vor mir sehe. Und somit weiß, dass mein Hirn seine Konstruktionen nicht nur auf Luft gebaut hat.

Dorothea Mildenberger