Vorhang auf! Premiere der Oper »Die Krönung der Poppea«
Operndebüt des Alphabet-Chors – ein sehr persönliches Erlebnis für
80 Sängerinnen und Sänger des jungen Bürgerchors
Wenig Licht. Aufstellung in drangvoller Enge. Warten. Aus den Lautsprechern erklingt das Rauschen eines unfreundlichen Windes. Marie-Belle Sandis‘ Stimme ertönt leise und sehr eindringlich klagend. Jörg Halubek dirigiert das wunderbare Orchester »Il Gusto Barocco« einfühlsam in diesen Abend hinein. Ein Lichtzeichen. Die Chorinspizientin Michaela Krimmer hebt den Arm, senkt ihn. In diesem Augenblick endet eine Monate währende Probenzeit für den Alphabet-Chor, als die ersten durch den Seitenvorhang die nebelverhangene Wasserfläche betreten, für das Publikum sichtbar werden und der Trauermarsch sich in Bewegung setzt. Die Premiere hat begonnen.
Die Krönung der Poppea – der Vorhang geht auf (Foto: Christian Kleiner)
Intensive musikalische Proben gehen dem Schritt auf die Bühne voraus…
Begonnen hat damit auch das Debüt des gerade einmal ein Jahr jungen Alphabet-Chors in einer veritablen Opernproduktion. Lampenfieber haben wir alle etwas, in unseren Pelzen ist uns heiß, die massive weiße Schminke bröselt unablässig als feiner Staub zu Boden. Der Schritt ins kühlende Nass erlöst wohl die meisten von der Anspannung. Alle sind sehr diszipliniert, entschlossen, eine anständige Arbeit abzuliefern, den Zuschauern die bestmögliche Qualität und damit gute Unterhaltung auf hohem Niveau zu bieten.
Die Nervosität hält sich dabei in Grenzen; denn zahlreiche Profis haben etliche Stunden investiert, um mit uns alles einzustudieren, jedes Detail: schauspielerische Aktion, Choreografie, sogar einen barocken Schreittanz. Das Wichtigste ist für einen Chor fraglos der Gesang. Wir haben in dieser Oper drei kurze Stücke zu singen, die in wenigen Augenblicken verklungen sein werden. Darum wollen alle für diese wenigen Sekunden einen möglichst perfekten Klang. Es bleibt keine Zeit, sich in einen sängerischen Fluss einzufinden, nein, jede und jeder muss auf den Punkt vollständig präsent sein, um der kontinuierlichen Handlung auf der Bühne die inszenierten musikalischen Akzente beizugeben. Damit das überhaupt möglich wurde, hat unser Chorchef Joe Völker geduldig und minutiös Phrase um Phrase mit uns geprobt, erklärt, verfeinert, nicht locker gelassen, immer das große Ziel vor Augen: aus dem anfänglich »einigen Schönen« mehr Schönes zu machen, uns so weit zu bringen, dass wir in die szenischen Proben einsteigen konnten. Jörg Halubek nahm das Produkt dieser Arbeit behutsam auf und formte es und damit uns weiter in Richtung auf die Erfordernisse der Inszenierung und auf Harmonie mit dem Klang der historischen Instrumente. Geduldig übte Alexander Gergelyfi mit uns und verwendete dabei durchweg kein Klavier, sondern das Cembalo, das Instrument, das auch in der Aufführung zum Einsatz kommen würde. Matteo Pirola brachte seine Kompetenzen als italienischer Muttersprachler und Korrepetitor zugleich ein. Ich genoss es sehr, wie meine Kenntnisse der italienischen Phonetik auf die Realität der Sprache trafen und praktisch jedes Wort noch minimaler klanglicher Veränderungen bedurfte, um deutlich echter zu klingen. Alle Sänger(innen) zeigten auch hier Lernbereitschaft und Ehrgeiz. Da soll einer sagen, Mannheimer Dialektsprecher könnten nicht Italienisch singen.
Probe mit Matteo Pinola und Jörg Halubek im Probezentrum Neckarau
Mancheiner war zuvor nie auf der riesigen Bühne des Opernhauses im Nationaltheater aktiv, andere schon, ich selbst auch, vor Jahrzehnten. In diesem Kosmos von Bühnentechnik kann man sich sehr klein vorkommen. Allein die immense Höhe des Raums, dessen Decke gar nicht zu sehen ist, heischt fast schon Ehrfurcht. Der Respekt vor der gesamten Maschinerie verlangt sehr bedachte Bewegungen.
Vorspiel auf dem Theater
Im Vorspiel auf dem Theater des »Faust« lässt Johann Wolfgang Goethe – selbst nicht nur Dichter, sondern auch Theaterpraktiker – den umtriebigen Direktor, dem ein gutes Geschäft mit der Inszenierung das Wichtigste ist, von der Bühnentechnik schwärmen:
Ihr wißt, auf unsern deutschen Bühnen
Probiert ein jeder, was er mag;
Drum schonet mir an diesem Tag
Prospekte nicht und nicht Maschinen.
Gebraucht das groß, und kleine Himmelslicht,
Die Sterne dürfet ihr verschwenden;
An Wasser, Feuer, Felsenwänden,
An Tier und Vögeln fehlt es nicht.
Sähe der Dichterfürst, was 220 Jahr später im Nationaltheater Mannheim auf die Bretter gelegt wird, er würde womöglich die letzten beiden Verse umdichten:
Lasst Wasser ein bis in die Enden
Zeigt die Lagune in fahlem Licht.
Wer weiß.
Arbeit mit Regisseur Lorenzo Fioroni
Der Premierenabend nimmt seinen Lauf. Ich bin dankbar für die mehrfach wiederholten Abläufe in den Proben. Das gibt Sicherheit. Wir sind mit allem versorgt, was wir wissen müssen. Eigentlich ist alles normal – nur eben das Zuschauerhaus nicht. Jetzt ist es voll mit Menschen, die gekommen sind, um eine vierhundert Jahre alte Oper in einer neuen Fassung zu erleben, inszeniert von einem Regisseur, dem nicht nur der Ruf vorauseilt, Ordnung und Ästhetik auf der Bühne aufzubrechen, der auch mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurde, weil er diesen Umgang mit der Ästhetik in einer kraftvollen und zuweilen Gewalt einsetzenden Weise praktiziert, aber immer reflektiert und intellektuell fundiert. Mit Lorenzo Fioroni arbeiten zu dürfen, war für uns Chorleute ein Vergnügen und ein Privileg. Immer charmant und verbindlich, dabei resolut in seinen Vorgaben, leitete Fioroni uns ebenso freundlich wie konzentriert an, nahm Fragen und Vorschläge auf und schaffte Klarheit, indem jedes Bild in seinem Kopf klar vorhanden war. Milo Pablo Momm ergänzte die Regiearbeit als ebenso fleißiger, wie kompetenter und klarer Assistent kongenial. Von seiner Leidenschaft für den höfischen Tanz profitierten wir durch die konsequente Anleitung und überaus klare Demonstration der Bewegungen, deren Bedeutung er auch erklärte.
Was tun, wenn das Stichwort nicht kommt?!
Alles könnte fast schon Routine sein. Es wäre aber nicht Theater, wenn nicht auch kleine Dinge anders liefen als geplant. Dann muss improvisiert werden. Das darf ich auch erleben, als ein Stichwort nicht kommt. Ich muss entscheiden, wie ich die Situation auflösen kann. Adrenalin wird ausgeschüttet. Ich orientiere mich und handle – zum Glück richtig. Der Schaden bleibt gering und vermutlich hat im Publikum kaum jemand etwas von der Situation mitbekommen. Diesen Kick muss ich nicht ständig haben, aber von Zeit zu Zeit ist er spannend.
Aufstellung zur Pavane. Dichter kann man nicht stehen. Wir harren in der Abdeckung des Bühnenwagens aus und kommen uns vor, wie die sprichwörtlichen Ölsardinen. Hier darf man sich vor Körperkontakt nicht fürchten. Der Chor ist wie ein einziger Organismus und doch haben verschiedene Gruppen ganz unterschiedliche Aufgaben. Die ersehnten Trommelschläge schaffen die notwendige Zäsur, die Musik ertönt und es geht geschwind raus auf die Wasserfläche. Jetzt folgt eine Handlungschoreografie, die für Improvisation wenig Spielraum lässt. Jede(r) muss zur rechten Zeit am rechten Ort sein, sonst reißt die Handlung ab und der Kontakt zum Orchester geht verloren. Das geschieht aber nicht, alles läuft glatt. Flüstern, rufen, rennen; ängstlich, devot, panisch – alles zu seiner Zeit.
In der kurz darauf folgenden Szene, die mit Senecas Tod enden wird, haben wir endlich zu singen. »Gloria« – mit einem nicht aspirierten »G«, offenem »O« und gerolltem »R« – kein Phonem klingt wie im Deutschen. An dieser bislang lautesten Stelle der Oper ist die Energie des Chores gefordert. Nerones Suizid-Befehl an Seneca stellt die Kaiserin Ottavia sich entgegen. Seneca soll nicht sterben. Dies unterstützen Solisten in einer eindringlichen Arie und das verstärkende Echo trägt der Chor bei. Es sind nur wenige Takte, die an zwei Stellen erklingen, mahnend, bittend, protestierend. Den grausamen Gottkaiser können sie nicht erweichen.
Während kleinere Gruppen aus dem Chor, zusammen mit Statisten, Spezialaufgaben erfüllen, zum Beispiel mit Fackeln eine Folterszene beleuchten, haben wir anderen eine lange Pause bis zum nächsten Einsatz. Bärte werden angeklebt, einige wechseln des Kostüm und kurz vor Ende der Oper tritt eine groteske Formation höfischer Tänzer auf die Bühne, füllt die wasserbedeckte Fläche ganz, harrt reglos und ungerührt aus, während Nerone und Poppea ein Duett singen. Dann tanzt der Chor, um gleich anschließend den Spottgesang »Scaramella« anzustimmen. Diese Szene beschließt den Reigen der Auftritte des Alphabet-Chors. Nicht nur ich selbst verspüre Erleichterung, während der gesamte Chor im Off verharrt und dem wundervollen und anrührenden letzten Duett der Protagonisten lauscht, dessen Handlung, paradox zur Schönheit der Musik, zugleich grausam und desillusionierend ist.
Scaramella-Chor (Foto: Christian Kleiner)
Schlussszene der Poppea (Foto: Christian Kleiner)
Zeit für den Applaus. Die Musik ist verklungen. Stille. Klatscht keiner? Doch, es setzt Applaus ein – Erlösung. Dann schwillt der Applaus an, Bravo-Rufe sind zu hören, freundlich Pfiffe dazwischen. Die Solisten treten vor, zu zweit, als Gesamtgruppe, Verbeugung. Das Ganze noch einmal. Der Regieassistent gibt uns ein Zeichen, der Alphabet-Chor schreitet zügig durch das aufspritzende Wasser, um seinen Applaus entgegenzunehmen. Kein schlechtes Gefühl. Der Applaus ist ausdauernd und die Phasen wiederholen sich. Solisten, Orchester, Statisten, Regisseur mit Produktionsteam, Chor.
Wohlverdiente Premierenfeier…
Eine Aufführung, für die ich persönlich sehr dankbar bin, geht zu Ende, der Abend jedoch noch nicht. Die Premierenfeier findet in ausgesprochen guter Stimmung statt. Strahlen ist bei solchen Gelegenheiten eigentlich Pflicht; hier wirkt es echt und sehr glaubwürdig. Intendant Albrecht Puhlmann spricht lange, nicht weil er sich gerne reden hörte, sondern weil er viel zu sagen hat. Er würdigt die Solisten und das gesamte Team, vertreten durch die jeweilige Abteilungsleitung, jeweils in knappen, aussagekräftigen Statements. Alle versammeln sich nach und nach auf der kleinen Podestbühne des brechend vollen Theatercafés, bis an der Größe der Gruppe augenfällig wird, welche Dimensionen ein solches Opernprojekt hat. Anschließend darf gefeiert werden. Ich gehe, ganz gegen meine Gewohnheit, einmal auf Autogrammjagd. Das traue ich mich nur, weil alle, Künstler, Regie, Dramaturgie, Kostüm, Technik und und und, uns Alphabeten freundlich aufgenommen und immer als Kollegen behandelt haben. Dafür danke ich ihnen von ganzem Herzen.
Gerhard Thorn