Beobachtungen und Fragen einer Premierenbesucherin.
Vielversprechende Stille im Opernhaus. Das zahlreich erschienene Publikum erwartete den Auftakt zu Monteverdis mysteriösem Werk Marienvesper.
Die Musiker das Gastorchesters »il Gusto Barocco«, die Chorsänger und fast alle Solisten haben sich bereits einer nach dem anderen auf der Bühne eingefunden, während das Publikum in den Saal kam. Dunkelheit und Stille werden vom letzten Solisten durchbrochen, der die zweite Loge betritt und ganz allein einen Choralgesang zu singen beginnt. Dieser aus der katholischen Liturgie stammende Vorgesang wird vom Chor mit Einsatz des Orchesters beantwortet. Bereits mit dem ersten Ton hat diese Aufführung einen Sog entwickelt, der es einem schwer macht, sich dem diffusen, emotionalen Geschehen auf der Bühne zu entziehen.
Dazu trägt auch das Bühnenbild bei: Es lässt den Grundriss einer Kirche aus der Opernbühne in den Zuschauerraum wachsen. Das Orchester spielt in einer Versänkung um die eine weitläufige Vorbühne ensteht, sodass es ins Bühnengeschehen eingebunden wird. Das angedeutete Kirchenschiff ist aus gelben Holzplanken erbaut. Einerseits fühlt man sich an Großbaustellen erinnert, andererseits verstärkt es auch die Assoziation mit einem Schiff. In beiden Fällen bleibt die Frage: Handelt es sich um Aufbau oder Abbruch, vielleicht auch um Restaurierung?
Da es sich bei dem Stück nicht um eine Oper handelt, haben die Rollen der Solisten keine tatsächlichen Namen, und dennoch sind bei der individuellen Probenarbeit der Sänger authentische Charaktere entstanden, für die man sich freuen kann, mit denen man leiden kann, die eine Geschichte haben.
Das Kunststück der Inszenierung ist es, diese Geschichten nicht in die völlige Leere zu stellen, das Geschehen wird nie unverständlich abstrakt, sondern bleibt ausreichend konkret. Somit entstehen im Kopf jedes einzelnen Besuchers individuelle Assoziationen. Keine zwei Personen haben an diesem Abend die gleiche Geschichte erlebt…
Ob der schwarze Engel, dem ein Flügel fehlt, die Kinder in weißen Kleidern, die ihn stets umgeben, vor dem Grauen der Welt beschützt?
Ob der Tenor im zerrissenen T-Shirt mit Kreuzaufdruck und abgetragener Lederjacke mehrere Tode sterben muss?
Ob die zwei Soprane in weißen Kleidern zwei Seiten derselben Person oder Schwestern sind?
Ob es der gesellschaftliche Druck oder die eigene Verzweiflung ist, die die hochschwangere Mezzosopranistin scheinbar endlos im Kreis rennen lässt bis sie die Illusion durchbricht und ihren umgeschnallten Bauch ablegt?
Ob es die frohe Botschaft oder ein Urteil ist, das der Bass im Anzug an die Geländer der untersten Logen pinselt?
Ob der Tenor im transparenten Rüschenkleid der kleine Schäfer ist, der kein Geschenk für das neugeborene Jesuskind hat und ihm auf seiner Trommel ein Lied spielt?
Ob der Tenor in historischer Kleidung sein Gegenstück strenger Kälte ist?
Das sind nur die Fragen, die mir durch den Kopf gehen, während mich die vielfältige Musik Monteverdis in ihren Bann schlägt.
Was wirst du erleben und was wirst du dich fragen?
Von Carlotta Riedelsheimer