Allgemein, Alphabet Festival, Mitsingen, überdiesSingen als Zugang zur Welt

Bei der Eröffnung der Alphabettage hielt Jutta Toelle vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt einen Vortrag zum Thema „Singen als Zugang zur Welt“ – hier zum Nachlesen:

 

„Abschalten und Energie tanken, dazu tolle Musik und Gleichgesinnte. Und hinterher sieht die Welt immer besser aus als vorher.“

 

„Nach einem langen Arbeitstag ist es manchmal hart, in den Chor zu gehen, aber danach geht es einem einfach gut.“

 

 „Wer singt, singt aus reiner Freude am Singen, ohne einem von außen kommenden Zweck zu folgen.“

 

„Singen führt zur inneren Freiheit.“

 

„Beim Singen suche ich meinen Platz im gemeinsamen Klang, behaupte ihn, und gehe in ihm auf.“

 

„Singen bedeutet für mich: abgeben statt aufnehmen, den extrovertierten Teil leben, Stimmungen in Schwingungen umsetzen.“

 

Dies ist nur eine Auswahl aus den Zitaten, die ich ihm Vorfeld der Alphabet-Tage gesammelt habe. Schon hier wird deutlich, dass beim gemeinsamen Singen als ganz grundlegender Art musikalischer Praxis viele Gegensätze zum Tragen kommen: Singen betrifft Körper und Geist gleichermaßen, das Individuum und die Gruppe – denn auch beim gemeinsamen Singen produzieren Sie die Töne alleine, koordinieren sich aber sofort mit der Gruppe. Singen bedeutet nicht nur Hören und Zuhören, Sehen und Zusehen, sondern auch gehört und gesehen werden, etwas tun und im Tun auf etwas Anderes reagieren – Aktion und Reaktion, Geben und Nehmen in einem. Gleichzeitig geht es beim gemeinsamen Singen meist sowohl um den Prozess – des Ausprobierens, Probens, Koordinierens – als auch um das Ziel – die Performance, das Ergebnis, der Auftritt. Schließlich ist das gemeinsame Singen auch eine der Grundlagen der Kunstform Oper – denn Oper funktioniert ohne Bühne, ohne Orchester, ohne Kulissen, aber nicht ohne Singen.

Es gibt viel aktuelle Forschung zum Thema gemeinsames Singen; das gemeinsame Singen vereint alle „five ways to wellbeing“ auf sich (die „fünf Wege zum Wohlfühlen“ des  Wellbeing Programs der britischen New Economics Foundation), nämlich to connect (sich mit anderen verbinden), to be active (aktiv sein), to take notice (aufmerksam sein, Dinge mitbekommen), to keep learning (immer weiter, immer Neues lernen) und to give (etwas zu geben).

Die musikalische Praxis des gemeinsamen Singens wird mittlerweile für SchmerzpatientInnen, Krebs- und Demenzkranke empfohlen, natürlich immer zusätzlich zu Medikamenten und Therapien. Vor allem Gesangsprojekte mit und für Menschen, die am Rande der Gesellschaft leben – Obdachlose, Gefangene, Geflüchtete – zählen zu solchen Ideen: viele Gefängnisse verfügen mittlerweile über Chöre oder organisieren andere musikalische Aktivitäten, und auch in Unterkünften für geflüchtete Menschen wird gesungen. Die vielen interkulturellen Chor- und Musikprojekte, die in den letzten Jahren ins Leben gerufen wurden, sind Zeugnis für das Inklusions- und Integrationspotential des Musizierens und insbesondere des gemeinsamen Singens!

Shelly Coyne, die in Schottland mit Obdachlosenchören arbeitet, hat eine größere Studie über Chöre für obdachlose Menschen in Rio de Janeiro durchgeführt. Ihr berichteten die Sängerinnen und Sänger in Brasilien vor allem, dass sich durch den Chor ihre “Sichtbarkeit” verändert habe: sie seien zu Darstellern und Musikerinnen geworden und würden nicht mehr auf den Makel der Obdachlosigkeit reduziert. Ihre Erlebnisse, verpackt in populären Texten und Liedern, würden erstmals gehört und durch das Erklingen auf einer Bühne veredelt und ernst genommen. Coyne ist es zudem wichtig zu betonen, dass solche Musikprojekte helfen, Berührungsängste auf allen Seiten abzubauen.

All diese Praktiken und die Forschung darüber sind Ergebnisse der Idee, das gemeinsame Singen (nachdem Arbeiterchöre, Männergesangsvereine und Gemeindegesang aus der Mode gekommen sind) wieder zu einem weit verbreiteten und gesellschaftlich anerkannten sozialen Format zu machen, es aus der „Bildungsbürgerecke“ wieder herauszubekommen; gleichzeitig sollten die Forschungsergebnisse auch Anstiftung dazu sein, weiter daran zu arbeiten. Im Endeffekt zählen auch die „Ich-kann-nicht-singen-Chöre“ in Berlin, Stuttgart, Wien und anderswo zu solche Projekten, denn: jeder darf und kann singen (wenn er will). Immer geht es um die Gegensätze, die im gemeinsamen Singen zum Klingen kommen: Sehen und Gesehen werden, Hören und Gehört werden, Zeigen und gezeigt werden, Agieren und Reagieren, als Individuen und gemeinsam. Die gemeinsame Botschaft kann jede Mitsingende und jeder Zuhörende für sich anders auslegen, doch der gemeinsame Klang kommt bei allen an.

 

Jutta Toelle,

Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, Frankfurt

jutta.toelle@ae.mpg.de