Kurz vor dem Ende eines turbulenten Jahres mussten leidenschaftliche Operngänger*innen feststellen, dass Weihnachten mehr ist als Weihnachtsbaum, Glühwein und Geschenke-Shoppen. Ein uns allen bestvertrautes Geschwisterpaar wurde dieses Jahr nirgends gesichtet. Hänsel und Gretel verliefen sich dieses Weihnachten in keinem Wald!
Woran das genau liegt, lässt sich nicht feststellen. Wahrscheinlich wurden sie wegen der Ausgangsbeschränkungen von ihrer Mutter nicht auf Erdbeersuche geschickt. Oder konnten sie dank Smartphone und GPS den Weg nach Hause problemlos finden? Wo auch immer die beiden geblieben sind, man merkt in dieser besonders stillen Zeit, wie stark man Weihnachten mit einem Opernbesuch verbindet. Viele Menschen teilen diese eine gemeinsame Opernerinnerung, dieses erste Mal im Saal voller Menschen, die gebannt auf die Bühne sehen und sich von Orchester und Gesang mitreißen lassen. Es ist ein erstes Eintauchen in eine Welt, die einen nach der Vorstellung zurücklässt mit Ohrwürmern, mit Bildern, die einen noch nachts im Traum verfolgen. Einige dieser kleinen Opernneulinge kommen danach immer wieder und entdecken noch viele weitere Opern, andere tragen diese weihnachtliche Opern-Erinnerung mit sich, ohne das Opernerlebnis weiter auszubauen. Welchen Weg sie auch gehen, sie teilen Hänsel und Gretel.
Humperdinck hat offensichtlich vieles sehr richtig gemacht. Ein Märchen, das sehr viele Menschen kennen, verbunden mit ein paar Kinderliedern (die vielleicht heute nicht mehr ganz aktuell sind). Damit hat er Anknüpfungspunkte zur Lebenswelt junger und jüngster Menschen geschaffen. Und die Eltern und Großeltern finden in der Fülle der Komposition Eindrücke, die sie – als sie selbst das erste Mal in Hänsel und Gretel waren – vielleicht noch nicht entdeckt hatten.
Aber was ist nun dieses Jahr? Das Theater ist einer der vielen Orte, die durch Corona zu einer Art Nicht-Ort geworden sind. Man kann am Theater vorbeigehen und es sich ansehen, aber reingehen kann man nicht… Auch wenn wir trotz Corona mit viel Abstand weiterproben, fehlen uns die Menschen sehr, denen wir unsere Opern zeigen können. Ohne sie ist Theater nur halb so spannend, nur halb so voll, nur halb so schön. Und ohne Hänsel und Gretel ist Weihnachten nur halb so schön!
Was ist eigentlich Theater ohne Publikum? Was ist Weihnachten ohne Hänsel und Gretel?!
Wir am Nationaltheater Mannheim waren sehr gut auf die beiden Wegsuchenden vorbereitet (und haben sogar schon Rosina Leckermaul gesichtet, die ein paar neue Rezeptideen ausprobieren wollte). Wir haben den beiden eine magische Bühne gebaut, die der Phantasie durch Videos ganz neue Räume eröffnet. 16 Musiker*innen haben sich sogar schon im Graben so breitgemacht, dass Corona keine Chance hat. Die Instrumente sind gestimmt, der Vorhang öffnet sich.
Aber wo bleiben Hänsel und Gretel? Aufmerksame Mitarbeiter*innen unseres Hauses haben sie vor kurzem durch das Fernsehen huschen sehen. Als ich nachsehen wollte, ob sie noch da sind, konnte ich sie leider nicht mehr finden. Man sagte mir aber, dass sie sich doch verlaufen hätten…typisch für die beiden…diesmal aber nicht in einem dunklen Wald, sondern in den Weiten des Internets.
Wer sie findet, muss gut auf sie aufpassen, wir glauben, dass Rosina Leckermaul sonst ihre neuen Rezepte an und mit ihnen ausprobiert!
Vielleicht kommen sie ja doch noch bei uns vorbei. Wir haben extra für sie (und für Sie) einen digitalen Rastplatz eingerichtet, die Chancen stehen gut, dass Sie da den beiden dieses Weihnachten doch noch begegnen werden!
– Oliver Riedmüller, Kunst & Vermittlung