Knisper-Knusper-Eiscreme-Truck
Strenge, verzweifelte Eltern, zwei Geschwister, ein leerer Kühlschrank, ein großer Wald, eine böse Hexe und jede Menge Magie – so könnte eine Kurzbeschreibung des Märchens »Hänsel und Gretel« lauten. Eine Geschichte, die bereits seit über 200 Jahren junge und alte Menschen fasziniert und Engelbert Humperdinck zu seinem ersten großen Opernerfolg inspirierte. Sein sogenanntes Märchenspiel in drei Bildern lockt jedes Jahr zur Weihnachtszeit viele Familien ins Theater. Für viele Kinder ist »Hänsel und Gretel« der erste Kontakt mit der Oper, der oft ein Leben lang prägt und der jedes Jahr aufs Neue gefestigt wird. So auch auf der Opernbühne des NTM in Form unserer vierten »White-Wall-Oper«.
Zauber ohne Altersbeschränkung: Das Märchen
Doch was genau ist eigentlich ein Märchen und was fasziniert gleichermaßen Kinder als auch Erwachsene daran? Laut Duden sind Märchen im Volk überlieferte Erzählungen, in der übernatürliche Kräfte und Gestalten in das Leben der Menschen eingreifen. Am Ende werden meist die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Eine Formel, die uns Menschen beruhigen kann: Übernatürliche Kräfte können das Leben unerwartet verändern, doch am Ende siegt die Gerechtigkeit. Die Duden-Definition lässt dabei jedoch offen, wie sich die Menschen innerhalb dieses Gefüges verhalten. Ein Gedanke, der die junge südafrikanische Regisseurin Victoria Stevens sehr interessiert hat und den Weg bereitet hat zu einer Inszenierung von »Hänsel und Gretel«, die Erwartungen an den Repertoire-Schlager bestätigt, mit anderen hingegen bewusst bricht und neue Perspektiven anbietet.
Freiheit zwischen Räumungsklage und Rechnungsregen?
In der Neuinszenierung von Victoria Stevens am Nationaltheater Mannheim lernen wir zu Beginn zwei rebellierende, graffitisprühende und verspielte junge Menschen in ihrem Alltag kennen. Zusammen mit ihren Eltern wohnen sie in einer kleinen, spärlichen Wohnung. Doch selbst dieses bescheidene Zuhause ist kein sicherer Anker. Wir erleben, wie der Vater nach einer Kündigung, mit seinen persönlichen Sachen in einem Karton verstaut, nach Hause kommt, und ihn dort buchstäbliche ein Rechnungsregen erwartet. Sogar eine Zwangsräumung der Wohnung geht an der Familie nicht vorbei. Innerhalb dieser großen Probleme scheinen die Träume und Wünsche von Hänsel und Gretel keinen Platz zu haben. Eine bedrückende familiäre Situation, die die Geschwister zum Erstarren bringen könnte. Tatsächlich sind die beiden aber alles andere als passiv. Von Anfang der Oper an machen die beiden Jugendlichen durch ihre bunten, verträumten Graffitis deutlich, wie viel Kreativität, Sehnsucht, gar übernatürliche Kraft in ihnen steckt. Denn ist nicht in Form unserer Fantasie ein Fünkchen Magie in einem jeden Menschen? Hänsel und Gretel nutzen dieses in sich wohnende Potenzial, um sich aktiv der trostlosen Situation ihres Zuhauses entgegenzustellen. Ein zunächst gezeichneter Junge mit einem Ballon taucht im Wald plötzlich in Menschengestalt auf und navigiert die Geschwister auf dem Weg fernab des Bekannten.
Zwischen Traum und Realität
Hänsel und Gretels Abenteuer wird durch die phantasievolle Bilderwelt der österreichischen Videodesignerin Judith Selenko zu einer Reise zwischen Realität und Phantasie, zwischen Wachen und Träumen, zwischen Kind sein und Erwachsen werden. Selenkos verspielte, digital handgezeichnete Welt stellt die unbegrenzten Möglichkeiten der Fantasie in den Mittelpunkt und lässt einen Einblick in die sprudelnde Vorstellungskraft der beiden Jugendlichen erhaschen. Man ist sich nie ganz sicher, ob das, was geschieht, Realität oder Traum ist. Nach einer magischen Nacht im Wald entdecken Hänsel und Gretel das Hexenhäuschen: einen mobilen Eiscreme-Truck. Die schlechten Absichten der Hexe durchschauen die Geschwister schnell. So entgegnet Hänsel der Hexe »Ich geh’ nicht mit dir, garstige Frau«, und auch Gretel erkennt »[sie sei] gar zu freundlich!«. Bis zum Ende des Märchens, dass der Duden mit einer Belohnung der Guten und einer Bestrafung der Bösen charakterisiert, bedarf es erneut der Kreativität der beiden Geschwister. Zweckentfremdete Graffiti-Flaschen führen zum Sieg über die Hexe. Aber die Geschwister werden nicht nur einfach belohnt, sondern sie erkämpfen sich ihr »happy end«. Mehr noch: Sie können der Begegnung mit der Hexe etwas Positives abgewinnen. Denn durch die Übernahme des Hexentrucks werden sie mobil, gewinnen die lang ersehnte Freiheit. Der Weg zu neuen Perspektiven und Möglichkeiten ist geebnet.
Aktualität des Märchens
Obwohl das Märchen von Hänsel und Gretel vor über 200 Jahren zum ersten Mal erzählt wurde, ist es brandaktuell. Denn gerade während der aktuell andauernden Pandemie wird einem bewusst, welche Kontakte es zu pflegen lohnt oder auf welche Freundschaften es wirklich ankommt. So wie auch wir es bereits als Kinder lernen, erkannten Hänsel und Gretel, wer gute Intentionen hat. Hinter dem mystischen Schleier des Märchens verbirgt sich einiges, das man auf sein eigenes Leben übertragen kann. Wann habe ich mich eigentlich das letzte Mal verlaufen? Gerade in Zeiten der Selbstisolation, wenn manche sich in einer Spirale von Netflix-Episoden, Home-Office und Einsamkeit gefangen fühlen, kann schnell der Eindruck entstehen, sich zu verlieren. Vielleicht hilft es, sich gerade dann an den unermüdlichen Antrieb und die Fantasie von Hänsel und Gretel zu erinnern. Möglichkeit dazu gibt es vom 19. Dezember 2020 bis 6. Januar 2021: Der Videomitschnitt der vierten White-Wall-Oper »Hänsel und Gretel« in der Regie von Victoria Stevens ist als Video-on-demand auf der Website des Nationaltheaters Mannheim verfügbar.
Nähere Informationen zur Neuinszenierung, eine Audio-Stückeinführung sowie einen Trailer, der Einblick ins Stück gibt, unter https://www.nationaltheater-mannheim.de/de/oper/stueck_details.php?SID=3827
Nähere Informationen zum digitalen Angebot des Nationaltheaters Mannheim sowie dem Stream von »Hänsel und Gretel« unter https://www.nationaltheater-mannheim.de/de/index-digital.php
Rejana Rempfer